Häusliche Gewalt und Versorgungsausgleich

Häusliche Gewalt und Versorgungsausgleich: OLG Stuttgart zur groben Unbilligkeit nach § 27 VersAusglG

Häusliche Gewalt ist nach wie vor ein drängendes Problem – nicht nur im sozialen, sondern auch im familienrechtlichen Kontext. In besonders schwerwiegenden Fällen, in denen die Gewalt massive und bleibende Folgen für die betroffene Person hat, kann der ansonsten regelmäßig durchzuführende Versorgungsausgleich gemäß § 27 des Gesetzes über den Versorgungsausgleich (VersAusglG) ausgeschlossen werden. Dies bestätigte das Oberlandesgericht Stuttgart in einem Beschluss, mit dem es die Entscheidung eines Amtsgerichts korrigierte, das einem gewalttätigen Ehemann trotz erheblicher Verfehlungen einen Anspruch auf Versorgungsausgleich zugesprochen hatte.

Sachverhalt: Gewalt in der Ehe mit gravierenden Folgen

Die Beteiligten hatten 2011 in der Türkei geheiratet, bereits 2009 war ein gemeinsamer Sohn geboren worden. Die Ehe wurde am 3. April 2024 rechtskräftig in Deutschland geschieden. Der Ehemann war während der gesamten Ehezeit keiner Erwerbstätigkeit nachgegangen, konsumierte illegale Drogen und war mehrfach strafrechtlich in Erscheinung getreten. Am 21. Februar 2014 ereignete sich ein folgenschwerer Vorfall: Auf dem Weg zu einer Entzugsklinik zerrte der Mann seine Ehefrau an einer Haltestelle gewaltsam aus einem Bus und schlug derart heftig auf sie ein, dass sie bewusstlos wurde und dauerhaft auf dem rechten Auge das Sehvermögen verlor.

In der Folge verblieb das Kind bei der Mutter, der Vater zahlte keinen Kindesunterhalt und war zeitweise inhaftiert. Gleichwohl beantragte er im Scheidungsverfahren die Durchführung des Versorgungsausgleichs. Das Familiengericht entsprach diesem Antrag – und löste damit die Beschwerde der Ehefrau aus, die die Entscheidung des Amtsgerichts mit dem Argument anging, dass es grob unbillig sei, dem Täter trotz der schweren Gewalttat Ansprüche auf Teilhabe an ihren während der Ehe erworbenen Rentenanwartschaften zuzusprechen.

Rechtliche Würdigung durch das OLG Stuttgart

Das Oberlandesgericht Stuttgart gab der Beschwerde der Frau statt und ordnete an, dass der Versorgungsausgleich gemäß § 27 VersAusglG auszuschließen sei. Nach dieser Vorschrift ist ein Versorgungsausgleich dann nicht durchzuführen, wenn er unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls grob unbillig wäre. Diese Regelung stellt eine Ausnahme vom Grundsatz des hälftigen Ausgleichs der in der Ehezeit erworbenen Versorgungsanwartschaften dar.

Das OLG stellte klar, dass in Fällen besonders schwerer ehelicher Gewaltverbrechen, die zu irreversiblen körperlichen und seelischen Schäden führen, ein solcher Ausschluss regelmäßig in Betracht kommt. Das Verhalten des Mannes habe ein erhebliches Maß an Menschenverachtung und Rücksichtslosigkeit gegenüber seiner Ehefrau erkennen lassen. Insbesondere sei zu berücksichtigen, dass die Frau durch die Tat nicht nur traumatisiert, sondern in ihrer körperlichen Unversehrtheit dauerhaft geschädigt wurde. Das Gericht bezeichnete es als „unerträglich“, dass ein Täter, der seiner Ehefrau ein solches Verbrechen zufügt, anschließend auch noch Ansprüche aus dem Versorgungsausgleich geltend machen könne.

Weitere Umstände: Arbeitsverweigerung und Unterhaltsverpflichtung

Ein weiteres gewichtiges Argument für den Ausschluss war das schuldhafte Unterlassen jedweder Bemühungen zur wirtschaftlichen Teilhabe am Familienunterhalt. Der Mann hatte in den Phasen, in denen er nicht in Haft war, keinerlei Erwerbstätigkeit aufgenommen und seiner gesetzlichen Pflicht, zumindest für das Kind Unterhalt zu leisten, vollständig nicht entsprochen. Auch dies stellte nach Auffassung des OLG ein Verhalten dar, das gegen elementare Grundsätze ehelicher Solidarität verstoße. Zwar stellt die Nichterfüllung von Unterhaltspflichten nicht per se einen Ausschlussgrund nach § 27 VersAusglG dar, doch im Zusammenspiel mit der schweren Gewalt und der vollständigen Verantwortungslosigkeit könne dies bei der Gesamtabwägung durchaus ins Gewicht fallen.

Gesamtabwägung entscheidend

§ 27 VersAusglG verlangt eine umfassende Betrachtung sämtlicher relevanter Umstände des Einzelfalls. Das Gericht darf den Versorgungsausgleich nicht allein deshalb ausschließen, weil ein Ehegatte sich unsozial oder strafbar verhalten hat. Vielmehr ist stets eine Gesamtbetrachtung geboten, in der das Ausmaß der Pflichtverletzung, die Schwere der Tat, die konkreten Folgen für den verletzten Ehepartner sowie weitere Umstände (etwa wirtschaftliche Bedürftigkeit oder Fehlverhalten in anderen Bereichen) zu berücksichtigen sind. Im vorliegenden Fall war das Gesamtbild jedoch eindeutig: Ein schweres Gewaltverbrechen mit lebenslangen Folgen für das Opfer, keine Erwerbstätigkeit, kein Unterhalt, wiederholte Straftaten – all dies sprach gegen eine Beteiligung des Mannes an den Versorgungsanrechten seiner Ehefrau.

Praktische Hinweise für die anwaltliche Praxis

Das Urteil des OLG Stuttgart verdeutlicht, dass in Fällen häuslicher Gewalt, insbesondere wenn sie mit bleibenden physischen oder psychischen Schäden einhergeht, die Möglichkeit besteht, den Versorgungsausgleich auszuschließen. In der anwaltlichen Praxis ist es daher wichtig, frühzeitig entsprechende Anträge zu prüfen und substantiierte Darlegungen zur Unzumutbarkeit des Ausgleichs zu liefern. Dabei sollte insbesondere auf folgende Aspekte eingegangen werden:

  • Art, Ausmaß und Häufigkeit der Gewalttaten

  • konkrete gesundheitliche und wirtschaftliche Folgen für den geschädigten Ehegatten

  • etwaige strafrechtliche Verurteilungen des Gewalttäters

  • Nichterfüllung unterhaltlicher Verpflichtungen

  • Fehlen jeglicher positiver Beiträge zum Familienunterhalt oder zur Lebensgemeinschaft

Alle für die Abwägung maßgeblichen Tatsachen sollten nachvollziehbar dargelegt, mit Nachweisen unterlegt und – soweit möglich – chronologisch geordnet dargestellt werden. Gerade in familienrechtlichen Verfahren, in denen ein erheblicher Beurteilungsspielraum besteht, kann die Struktur und Plausibilität des Vortrags entscheidend für den Erfolg sein.

Fazit

Der Beschluss des OLG Stuttgart setzt ein deutliches Zeichen: Wer in der Ehe schwere Gewalt ausübt, seine familiären Pflichten dauerhaft vernachlässigt und keinerlei Bereitschaft zeigt, sich konstruktiv an der familiären Lebensgemeinschaft zu beteiligen, verwirkt unter Umständen seinen Anspruch auf Teilhabe an den Rentenanwartschaften des Ehegatten. In solchen Fällen dient der Ausschluss des Versorgungsausgleichs nicht nur dem individuellen Gerechtigkeitsempfinden des verletzten Ehepartners, sondern auch der Wahrung rechtsstaatlicher Grundprinzipien. Die Entscheidung macht zugleich deutlich, dass die Gerichte bei der Anwendung des § 27 VersAusglG eine sorgfältige und umfassende Prüfung aller Umstände vorzunehmen haben – eine Herausforderung, aber auch eine Chance für eine sachgerechte Lösung in besonders belasteten Familiensituationen.

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